Marx für Angepasste

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150 Jahre »Das Kapital«: ein Jubiläum zwischen bürgerlicher Vereinnahmung und harmlosen Linken

Von John Lütten und Michael Sommer

Zum 150. Mal jährt sich dieser Tage das Erscheinen des Marxschen Hauptwerks: »Das Kapital«, von seinem Verfasser einmal als das »furchtbarste Missile« bezeichnet, »das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist«. Im Jubiläumsjahr ist das Werk in aller Munde – sogar bürgerliches Feuilleton und Wirtschaftspresse sind voll des Lobes: »Marx ist aktuell«, lautet der einhellige Befund. Ein Revival marxistischer Kritik? Mitnichten. Mit interessierten Belanglosigkeiten wird der Revolutionär zu Tode gelobt und politisch neutralisiert.

Der neoliberale Ökonom Hans-­Werner Sinn etwa feiert Marx für die Erkenntnis, dass die Ökonomie den Rahmen bestimme, innerhalb dessen sich Politik bewegen könne – um daraus ein Argument gegen den Mindestlohn zu machen und Linke anzuprangern, die »an die Möglichkeit politischer Interventionen in das Marktgeschehen« glauben. Eher keynesianisch angehaucht, meint Lisa Nienhaus, stellvertretende Wirtschaftschefin der Zeit, dem »Kapital« entnehmen zu können, Marx habe dort gegen zu hohe Managergehälter angeschrieben. Das beweise seine »Aktualität«.

Dabei werden die vermeintlichen Marx-Freunde nicht müde, eines zu betonen: So aktuell er auch ist – bei Proletariat, Klassenkampf und Revolution war Marx auf dem Holzweg! »Die Welt muss sich anstrengen, um weiterhin Marx, den Revolutions­prognostiker, Lügen zu strafen. Dafür sollte sie unbedingt Marx, den Analytiker, und Marx, den Weltökonomen, lesen«, rät Nienhaus und stößt damit ins Horn ihrer Kollegen, die vor Marxens »kommunistischer Vereinnahmung« warnen. Der langen Lobreden kurzer Sinn: Bloß nicht Marx den Linken überlassen!

Aber muss man sich da überhaupt Sorgen machen? Auch jene, die es besser wissen müssten, wiederholen derzeit oft nur, was sowieso alle finden – dass Marx irgendwie aktuell und wichtig ist. Statt den unhintergehbar revolutionären Gehalt seines Werks herauszustellen, drücken sich viele Linke und Intellektuelle um die Aussage herum, dass Marx Kommunist war und das »Kapital« geschrieben hat, um der Arbeiterklasse eine Waffe gegen Klassenherrschaft und Ausbeutung an die Hand zu geben. Etliche wissenschaftliche Tagungen und Konferenzen diskutieren dieser Tage diverse Aspekte des Marxschen Werks – legitim, keine Frage. Dass seine Wissenschaft aber parteilich gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet war, spricht niemand aus.

So auch das von der Rosa-Lu­xemburg-Stiftung betriebene Portal »marx200.org«: Marx und sein Werk seien »Botschaften durch die Zeit, halb geöffnete Türen in der Geschichte, die unabgeschlossenen, unvollendeten und unbeantworteten Fragen vergangener und zukünftiger Emanzipationsbewegungen«, heißt es dort mystisch – nach einem »furchtbaren Missile« klingt das nicht gerade. »Das Kapital ist keine Anleitung zur Überwindung des Kapitalismus«, gibt man denn auch Entwarnung für alle, die zweifeln sollten.

Anderen dient ein um jeden oppositionellen Gehalt verkürzter Marx nur noch dazu, Widerstand gegen die Herrschenden zu paralysieren. Darauf zielt der Vorwurf »personalisierter«, gar »strukturell antisemitischer« Kapitalismuskritik, den Antideutsche, Antinationale oder einige Anhänger der »Neuen Marx-Lektüre« seit Jahren gegen linke und andere Protestbewegungen ins Feld führen. Kapitalismus, so die Annahme, sei ein System »apersonaler« Herrschaft, dem Kapitalisten und Lohnabhängige gleichermaßen unterworfen seien. »Die Suche nach den Schuldigen ist im Kapitalismus endlos, denn es gibt sie einfach nicht«, meint etwa das sich als antinational verstehende Jugendmagazin Straßen aus Zucker. So wird Marx’ Kritik zum »furchtbaren Missile« nicht gegen die Bourgeoisie, sondern gegen Underdogs und Linke.

»Das Band zwischen Marxismus und Arbeiterbewegung ist gerissen«, beschrieb Thomas Marxhausen (1947–2010), in der DDR Professor für Politische Ökonomie, schon vor Jahren den Hintergrund dieser Tristesse, Wolfgang Fritz Haug paraphrasierend. Aber es ist das eine, die Probleme zu erkennen und an einer politischen »Kapital«-Rezeption auf Höhe der Zeit zu arbeiten. Etwas ganz anderes ist es, aus der Not eine Tugend zu machen und den Wirkungskreis des »Kapitals« freiwillig auf Lesekreise und Uni-Seminare zu beschränken.

Marxens Analyse und Kritik angemessen würdigen hieße, zu ihrer wissenschaftlichen und politischen Restauration beizutragen. Es bedarf einer Analyse des realexistierenden Kapitalismus, zu der die Erneuerung marxistischer Klassenanalyse gehört – ohne Rücksicht auf bürgerliche Befindlichkeiten. Hiervon ausgehend sind linke Organisations- und Bündnisdebatten sowie die Diskussion über sozialistische Übergänge erst sinnvoll zu führen.

»Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen«, schrieb Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Nun ist es so, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihren Krisen und Umbrüchen längst auf radikale Gedanken und Veränderungen drängt. Allein, der Linken scheinen die Gedanken abhanden gekommen zu sein, wie sie dieser Wirklichkeit begegnen will.