„Im Kapitalismus werden die Produktivkräfte zu Destruktivkräften“

In der neusten Ausgabe von TIERBEFREIUNG – das aktuelle Tierrechtsmagazin (Heft Nr. 95, Juni 2017) ist ein gekürztes und redaktionell angepasstes Interview mit dem Bündnis Marxismus und Tierbefreiung erschienen. Deswegen machen wir an dieser Stelle nun das vollständige Gespräch zugänglich. Geführt hat das Interview die Basisgruppe Tierrechte (BAT) aus Wien.

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Bitte stellt das Bündnis „Marxismus und Tierbefreiung“ vor, was dürfen wir über eure Mitglieder erfahren?

Unser Bündnis besteht aus Organisationen und Einzelpersonen, die in der Tierbefreiungsbewegung und in der marxistischen Linken aktiv sind. Wir kommen aus mehreren Städten der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz. Unser gemeinsamer Ausgangspunkt war die politische Überzeugung, dass die Ausbeutung und Unterdrückung von Tieren, von arbeitenden und marginalisierten Klassen und die Zerstörung der Natur abgeschafft werden müssen. Dazu kommt die gemeinsame Erkenntnis, dass die marxistische Gesellschaftstheorie und -kritik das geeignete Instrumentarium bietet, um die Ursachen für diese Ausbeutung und Zerstörung zu verstehen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Seitdem wir uns 2014 zum ersten Mal getroffen haben, arbeiten wir auf dieser Basis bei regelmäßigen Treffen an unseren Positionen, diskutieren über organisatorische Fragen und versuchen darüber hinaus, im Rahmen unserer Möglichkeiten in beide Bewegungen, die marxistische Linke und die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung hineinzuwirken.

In eurem Text „Zwischen Bewegungsfetisch und rot-rot-grüner Tierschutzpolitik“ (TBA #93) schreibt ihr: „De facto hat beim TBK 2016 eine Öffnung ins bürgerliche Lager bei gleichzeitiger Limitierung der Möglichkeiten für linke Debatten stattgefunden.“ Uns hat das an einen Text aus dem Jahr 2004 erinnert, wo in Bezug auf die Tierrechtsbewegung von einer „zunehmenden Entpolitisierung und Desorganisation der Strukturen und der Annäherung an den bürgerlich-speziesistischen Tierschutz“ und von „Zerfall“ die Rede ist. Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt von einer aktuellen Entwicklung sprechen?

Anpassungsprozesse der außerparlamentarischen und parlamentarischen Opposition geschehen weder von heute auf morgen noch verlaufen sie linear, d.h. kontinuierlich in eine Richtung. Es gibt Brüche, Zwischenhochs, Gegentendenzen usw. Insofern schließen sich die These, die 2004 im Reader „Marginalien zum Mensch-Tier-Verhältnis“ formuliert worden ist, und unsere Einschätzung nicht aus, die wir zwölf Jahre später getroffen haben.
Zwischen 2004 und 2016 hat es diverse Anstrengungen aus der Bewegung heraus gegeben, den Abwärtstrend aufzufangen. In Hamburg hat Tierrechts-Aktion-Nord (TAN) z.B. den Kongress „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ 2006 ausgerichtet, bei dem zahlreiche renommierte WissenschaftlerInnen Vorträge für eine kritische Theorie zur Befreiung der Tiere entwickelt haben. Das gleichnamige Buch mit den Beiträgen der Referenten, das Susann Witt-Stahl herausgegeben hat, erschien ein Jahr später und war das erste seiner Art im deutschen Sprachraum. Schon zuvor (2005) hatte Marco Maurizi weitgehend unbemerkt mit seinen Neun Thesen zum historischen und metaphysischen Antispeziesismus einen kleinen Sprung in der theoretischen Evolution gemacht und zum ersten Mal versucht, den Speziesismus und Antispeziesismus historisch-materialistisch zu begreifen.
Auch der Tierrechtskongress 2009 war ein bemerkenswerter Versuch, das politische Profil der Bewegung zu stärken, Positionen zu schärfen und Kompetenzen zu lernen. In die Zeit zwischen 2004 und 2016 fallen auch zahlreiche Erfolge, z.B. der Offensive gegen die Pelzindustrie. Aber auch wenn die Konjunktur zwischendurch angezogen hat, ist die langfristige Entwicklung negativ so, wie wir es geschrieben haben.
Zumal eine Öffnung ins bürgerliche Lager z.B. mehr umfasst als „nur“ eine Annäherung an Tierschutzpositionen. Die pädagogisierende Nabelschau, die während des TBK 2016 stattgefunden und nicht unbeträchtlichen Raum eingenommen hat, der für die Diskussion virulenter politischer Probleme und Meinungsverschiedenheiten fehlte, gab es z.B. beim TBK 2009 nicht, obgleich auch damals nicht alles gut war.

Wenn ihr in eurem „Thesenpapier: Marxismus und Tierbefreiung“ von der Tierbefreiungsbewegung als Teiladressat_in eurer Thesen schreibt, dann haben wir ein konkretes Bild vor Augen: die Bewegung, wie wir sie kennen. Wenn die Rede von „den Marxist_innen“ ist, ist für uns schwierig zu wissen, wer gemeint sein soll. Was genau „den Marxismus“ auszumachen hätte, ist ja bereits zu Marx‘ Lebzeiten umstritten gewesen. An wen sollen wir also als mögliche Koalititonspartner_innen denken? Gibt es konkrete Gruppen, die euch dafür prädestiniert erscheinen?

Wir haben in unserem Thesenpapier umrissen, was wir unter „Marxismus“ verstehen. Der Verständlichkeit halber auf eine Formel gebracht könnte man sagen: historischer Materialismus plus Kritik der politischen Ökonomie und Kulturkritik, d.h. heute Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft und darauf begründete politische Praxis.
Die AdressatInnen auf der Linken, die Marxistinnen und Marxisten, sind bewusst relativ weit gefasst. Marxistinnen und Marxisten, marxistische Organisationen und Gruppen gibt es immer noch zahlreiche überall auf der Welt. Außerdem gibt es sie in allen Schattierungen: MarxistInnen in der Tradition der traditionellen kritischen Theorie der Frankfurter Schule wie Moshe Zuckermann, ökosozialistisch orientierte Strömungen, die GenossInnen der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), zahlreiche trotzkistische Gruppierungen, außerparlamentarisch agierende antiimperialistische Gruppen in der Tradition der Autonomen der 1980er-Jahre. Auch in der Partei DIE LINKE arbeiten immer noch marxistische GenossInnen. „Den“ marxistischen Adressaten im Sinne einer ausgewählten Gruppierung gibt es also nicht. Wenn marxistische Organisationen oder Intellektuelle bereit sind, die Fragen der Ausbeutung und Befreiung der Tiere ernsthaft theoretisch zu diskutieren und als Teil ihrer politischen Agenda zu akzeptieren, sind wir gesprächsbereit. Es gibt kein Patentrezept, mit wem man zusammenarbeiten kann und mit wem nicht. Wir sind auch nicht der Meinung, dass man marxistische Organisationen von heute auf morgen für die Befreiung der Tiere gewinnt oder sie umgehend an Kampagnen beteiligen kann. Tierbefreier- und TierrechtlerInnen werden auch nicht über Nacht zu MarxistInnen.
Wir haben jetzt zwei Jahre hintereinander gute Erfahrungen bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK) und der Liebknecht-Luxemburg-Demo in Berlin gemacht. Bei der diesjährigen RLK war es auffällig, dass unser „Thesenpapier“ vor allem bei jungen Leuten auf Interesse gestoßen ist. Wir haben auch beim Pressefest von „Unsere Zeit“, der DKP-Zeitung, Veranstaltungen gemacht, die kontroverse und produktive Debatten ausgelöst haben. Das läuft natürlich nicht immer alles reibungslos, aber seit wann entwickeln sich politische Standpunkte, Organisationen und Praxis ohne Reibung?

Eure Aufzählung an Gruppen und Strömungen wirkt ein wenig unkonkret, insgesamt bietet sich überwiegend ein Panorama zersprengter und gesellschaftlich wenig wahrnehmbarer oder relevanter Politgruppen. Wie würdet ihr skeptischen Stimmen aus der Tierbefreiungsbewegung antworten, die angesichts dessen am Potential des Marxismus zur Analyse oder gar grundlegenden Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaft zweifeln?

Wir können kein Interesse daran haben, die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung und die marxistische Linke in der Schweiz und in Deutschland größer zu machen, als sie sind. Sie sind gesellschaftlich gesehen marginale politische Kräfte. Aber sollten wir deswegen aufgeben, die Gesellschaft verändern zu wollen und für die Veränderung einzutreten? Sollten wir die Erkenntnis verwerfen, dass die Tiere befreit werden müssen, weil die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung ohne nennenswerten politischen Einfluss ist? Im Grunde trifft die Kritik, die in Eurer Frage mitschwingt, auf die gesamte Linke zu und dennoch hört die Linke nicht auf zu kämpfen. Und das ist auch gut so.
Die Größe marxistischer Gruppen und Organisationen sagt zudem wenig bis nichts über die Qualität der marxschen Analyse oder der marxistischen Gesellschaftstheorie und -kritik aus. Die rückläufige und zerfallende marxistische Opposition zeugt eher von der Integration und Anpassung vieler MarxistInnen, ihrer Wende zu grün-sozialdemokratischen und sogar neokonservativen Positionen einerseits und dem erfolgreichen Klassenkampf der herrschenden Klasse in der Zeit nach 1968 andererseits.
Schließlich ist über die letzten Jahrzehnte durch Kritik offengelegt geworden, dass die bisherigen Versuche, Ausbeutung und Unterdrückung der Tiere auf den Begriff zu bringen, ebenso unzureichend sind wie die daraus abgeleiteten Strategien für die Praxis. Mit Marx und Engels können wir erklären, wieso Tiere ausgebeutet und unterdrückt werden, wer daran Interesse hat, wer davon profitiert, welche Rolle der Staat dabei spielt, wie und wieso speziesistische Ideologien entstehen usw. usf. Auf dieser Grundlage können wir die notwendigen politisch-ökonomischen Ziele des Klassenkampfes bestimmen – die revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen Produktionsweise und des bürgerlichen Staates – und eine – revolutionär-realpolitische – Strategie entwickeln. Bei allen Verdiensten der klassisch-bürgerlichen Moraltheorien, der Rechtskritik und der linksliberalen Herrschaftskritik, die sie historisch im Kampf „für die Tiere“ erworben haben – aber vieles, was die marxsche Theorie bietet, leisten sie schlicht nicht. Stattdessen schüren sie Illusionen und lenken von zentralen Einsichten ab.

Bei eurer Aufzählung möglicher BündnispartnerInnen fällt auf, dass große mobilierungsfähige Gruppen wie die Interventionistische Linke (IL) und das UmsGanze-Bündnis fehlen, was insofern bemerkenswert erscheint, als hier bereits Anknüpfungspunkte gefunden wurden, konkrete Zusammenarbeit tatsächlich stattfindet, nämlich bei Klima Camps und Ende Gelände die Beteiligung von Animal Climate Action oder Tierbefreiung goes Blockupy. Wie ist das zu verstehen?

Wir sympathisieren mit Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams. Aber für uns sind letztlich nicht Größe und Mobilisierungsfähigkeit, sondern politische Kriterien ausschlaggebend dafür, mit wem man Bündnisse eingeht und mit wem nicht. Wir wollen mit Kräften zusammenarbeiten, die sich im Spannungsfeld revolutionärer Realpolitik bewegen, also konkrete Politik im Hier und Jetzt machen und damit auf die Abschaffung der kapitalistischen Klassengesellschaft hinarbeiten. Das schließt eine Teilnahme an Tierbefreiung goes Blockupy (einige von uns waren übrigens daran beteiligt und haben keineswegs ein durchweg positives Fazit der „Zusammenarbeit“ gezogen) ebenso wenig prinzipiell aus wie punktuelle oder Aktionsbündnisse mit der IL. Die IL hat sich allerdings in den letzten Jahren zunehmend dem UmsGanze-Bündnis und den zentristischen Strömungen in der Partei Die Linke angenähert und sich dementsprechend zunehmend sozialdemokratisiert.
UmsGanze gehört zu den sogenannten „Postantideutschen“ oder „Antinationalen“, die für die Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft und den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung heute nicht nur keine Hilfe, sondern vielmehr ein Hindernis sind. Das Bündnis bedient sich zwar marxistischer Begriffe und antikapitalistischer Rhetorik, trennt sie aber unter anderem von der Klassenfrage und beraubt sie ihres revolutionären Gehalts. Die Akademisierung und Reduktion des Marxismus auf Erkenntniskritik bzw. Kritik der Fetischformen, wie sie in dieser Strömung üblich sind, sind Schritte, den Willen zum Klassenkampf auch unter den letzten verblieben Linken zu brechen. Ihr „Internationalismus“ ist weitgehend kompatibel mit der deutschen Staatsräson und läuft unweigerlich auf die Neutralisierung revolutionärer Politik hinaus. Das wöchentlich erscheinende Zentralorgan dieser Strömung, die jungle world, strotzt regelmäßig vor Tierhass. Denunziationen von TierrechtsaktivistInnen und TierbefreierInnen gehören dort zum guten Ton. Auch in der Praxis haben UmsGanze-Gruppen schon gezielt gegen revolutionäre MarxistInnen gearbeitet. Aus diesen Gründen erübrigt sich die Fragen nach einer Zusammenarbeit.

Euren Thesen zufolge lässt sich die Notwendigkeit von Tierbefreiung gut mit Marx argumentieren. Könnt ihr uns erklären, warum gerade marxistische Gruppen nicht selten als natur- und tierfeindlich verschrien sind?

Marxistische Organisationen sind unter anderem deshalb als naturfeindlich verschrien, weil es Teil antikommunistischer Ideologie ist, sie auf diese Art und Weise zu dämonisieren. Der US-amerikanische Ökosozialist John Bellamy Foster hat z.B. mehrfach auf die Leistungen auf dem Feld der wissenschaftlichen und praktischen Ökologie etwa in der Sowjetunion hingewiesen, die gemeinhin auch in der Linken bei den Debatten immer unter den Tisch fallen gelassen werden. Die ökosozialistischen Traditionslinien des Marxismus, die teils im Trotzkismus, teils im Marxismus-Leninismus Fuß gefasst hatten und die bis zu Marx und Engels zurückreichen, werden in der Regel ignoriert.
Darüber hinaus erklärt sich dieses Bild marxistischer Gruppen sicherlich auch aus den politischen Kämpfen zwischen marxistischen Strömungen und – den später siegreichen – bürgerlich-liberalen Fraktionen innerhalb der Neuen Sozialen Bewegungen, die seit den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden sind. Letztere haben aus der historischen Tatsache, dass MarxistInnen damit begonnen haben, die Ausbeutung der geknechteten Klassen zu bekämpfen, den Vorwurf gemacht, er würde sich darauf beschränken.
Schließlich gab es natürlich auch reale Anknüpfungspunkte für die genannten Ideologien. Die ökologischen Zerstörungen im Realsozialismus sind bekannt. Auch der Glaube daran, dass die Produktivkraftentwicklung zwingend zur Befreiung führt bzw. dass sie neutral sei und nur anders genutzt werden müsse, z.B. als „sozialistische Atomkraftwerke“, waren in einigen Strömungen der marxistischen Linken durchaus eine Zeitlang vorherrschend.
Während marxistische Organisationen die ökologischen Fragen heutzutage aufgenommen und ihr Antworten darauf formuliert haben, ist gleichzeitig nicht von der Hand zu weisen, dass viele marxistische GenossInnen zur Tier-Frage bestenfalls nichts zu sagen zu haben. Vereinzelt fallen sie entgegen ihrer eigenen historisch-materialistischen Auffassungen auch in den bürgerlichen Idealismus zurück. Dies gilt es zu ändern.

Da würden wir gern nachhaken, auch weil Tierrechtsaktivist_innen im direkten Kontakt mit Marxist_innen leider nicht selten auf blanke Abneigung stoßen: Könnt ihr genauer ausführen, wo Marxist_innen bezüglich des Verhältnissen zu Natur und/oder Tieren in den bürgerlichen Idealismus zurückfallen?

Dass Tierrechts- und TierbefreiungsaktivistInnen mit ihren Argumenten auf Abneigung stoßen, hängt auch damit zusammen, dass sie häufig ebenso idealistisch argumentieren. Um so erstaunlicher ist es aber, dass MarxistInnen einzelne Kriterien, wie z.B. die Vernunftbegabung, mitunter unhistorisch aus der gemeinsamen Entwicklung von Gesellschafts- und Naturgeschichte herauslösen und anhand dieser willkürlich absolute Grenzen zwischen Menschen und Tieren festsetzen. Sie nehmen also Resultate der Ko-Evolution der menschlichen und tierischer Gesellschaften und projizieren diese auf die Geschichte. Normalerweise würde man von MarxistInnen hingegen erwarten, dass sie die reale historische Entwicklung von Natur und Gesellschaft analysieren und ausgehend davon unter anderem die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren untersuchen. Dann kämen man unseres Erachtens zu der Erkenntnis, die Marx und Engels vertreten haben, dass gleichzeitig eine unauflösliche Einheit und Differenz von Menschen und Tieren besteht.

In euren Thesen ist der Einfluss der Schriften von Marco Maurizi deutlich zu bemerken, auch wenn ihr schreibt „Warum der Antispeziesismus marxistisch sein muss“ und „Warum der Marxismus antispeziesistisch sein muss“. In seinem Text „Jenseits der Natur“ fügt Marco Maurizi, nachdem er Antispeziesismus und Marxismus thematisiert hat, allerdings noch einen Abschnitt hinzu: „Warum brauchen wir die Kritische Theorie?“ Für den marxistischen Flügel der Tierrechtsbewegung hatte die Kritische Theorie der Frankfurter Schule viele Jahre lang eine besondere Bedeutung. Von Adorno und Horkheimer ist in euren Thesen nicht die Rede. Ist das eine bewusste Abkehr von einer Tradition?

Keineswegs. Es ist keine Abkehr von der traditionellen kritischen Theorie, wenn wir Adorno, Horkheimer oder Marcuse nicht namentlich erwähnen. Ihre Überlegungen haben Eingang in das Thesenpapier gefunden. Beispielsweise der historisch-materialistische Begriff des Leidens, den wir verwenden, geht in seiner ausgearbeiteten Form auf die Frankfurter zurück. Auch auf Marcuses Postulat, dass die Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung von Mensch und Tier und ihr Schutz vor Grausamkeit und Aggression „Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft“ seien, kann man bei der Lektüre unseren Thesen wiederfinden. Schließlich ist das ideologiekritische Verfahren, mit dem wir die verschiedenen Positionen in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung analysieren, eine Spezialität der traditionellen kritischen Theorie. An diesem Punkt gibt es eine nahezu ungebrochene Kontinuität von Marx und Engels bis zu Adorno.

In dem schon erwähnten Text in der TBA schlagt ihr „ein strategisches Bewegungsprojekt z.B. eine bundesweite Kampagne gegen die Fleischindustrie statt zahlreicher Einzelkampagnen“ vor. Das klingt spannend, welche Komponenten könnte solche eine Kampagne umfassen, habt ihr diesbezüglich genauere Vorstellungen?

Wir sind uns nicht einmal 100-prozentig sicher, ob es sich wirklich um eine Kampagne im klassischen Stil, etwa der Offensive gegen die Pelzindustrie (OgPi), handeln sollte oder müsste. Die politischen und ökonomischen, taktischen und strategischen Voraussetzungen unterscheiden sich erheblich, wenn man an den Lebensnerv der wirtschaftlich stärksten und politisch einflussreichsten Tierausbeutungsindustrie heran will oder wenn man Teile des Handelskapitals unter Druck setzt, ein Randgeschäft wie den Pelzverkauf aufzugeben. Auch die gesellschaftliche Debatte und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind heute andere als Ende der 1990er-Jahre.
Sicher ist, dass es keine ausschließlich oder vorrangig konsum- und verbraucherorientierte Kampagne sein dürfte, dass die Konversion der Betriebe eine zentrale Forderungen wäre und dass die Arbeitsbedingungen der hunderttausend Leih- und WerkarbeiterInnen und die ökologischen Zerstörungen berücksichtigt werden müssten. Es wäre daher sinnvoll zu versuchen, Teile der marxistischen Linken und linke GewerkschafterInnen sowie den linken Flügel der Ökologiebewegung von einer Mitwirkung zu überzeugen. Publizistisch müsste die Kampagne kontinuierlich begleitet werden.
Taktisch könnte man diskutieren, ob die Exporthilfen des Staates für die Fleischindustrie ein Ansatzpunkt für kollektives Handeln wären. Denn derzeit stammt das Wachstum der Branchenriesen maßgeblich aus Exportgewinnen.
Es ist aber auch klar, dass eine solche kollektive Praxis von den zentralen Bewegungsakteuren organisatorisch, politisch und inhaltlich wesentlich mehr erforderte, als derzeit geschieht. Es bedürfte einer bundesweiten Organisierung auf einer gemeinsamen inhaltlichen Grundlage und der Abkehr von lokal ausgerichteter Kleingruppenpolitik, bei der man sich immer gleichzeitig an vielen „kleinen“ Problemen abarbeitet (Zoos, Tierversuche, Milch, Ponyreiten usw.), aber politisch keine Wirkung erzielt und die eigenen Kräfte verpulvert.
Über alle diesen Themen würden wir gern mit den interessierten Akteuren der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung diskutieren. Deshalb war es uns auch wichtig, die Erfahrungen der AktivistInnen beim TBK 2016 zu hören, die bereits regionale Kampagnen oder Aktionen gegen die Fleischindustrie machen.

Veganismus war immer schon ein wesentlicher Bestandteil der modernen Tierrechtsbewegung. Wenn wir heute von einem Vegantrend sprechen können, also vegane Produkte sichtbarer geworden sind, müssen wir das nur negativ als Vereinnahmung und Verdinglichung verstehen?

Sowohl die Konzerne als auch die zivilgesellschaftlichen Kräfte und der Staat haben ihre Strategien im Umgang mit den Forderungen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung aufgrund der zurückliegenden Kämpfe angepasst. Vegane Waren als Ergänzung in der eintönigen Vielfalt der Supermärkte sind heute genauso weitgehend akzeptiert wie die entsprechende Lebensweise, aber nur solange das Fleisch – und damit der ganze Ausbeutungsapparat und dessen Profiteure – weiter geduldet werden.
Einzelne Fleischkonzerne, wie etwa Rügenwalder Mühle, profitieren sogar vom Vegan-Hype mit seinen nicht unbeträchtlichen Gewinnmargen. Die Einführung veganer Produktlinien hat auch nichts daran geändert, dass in der Bundesrepublik immer mehr (sic!) Tiere geschlachtet werden. Im Entwurf des Wahlprogramms der Grünen für die deutsche Bundestagswahl steht u.a., dass die Tiere „um ihrer selbst willen“ als Lebewesen geschützt werden sollen und ein Ausstieg aus der industriellen Massentierhaltung – also nicht aus der Tierhaltung, Tier und Fleischproduktion – in 20 Jahren angestrebt werde. Dies wollen die Grünen „mit einem Pakt für faire Tierhaltung“ fördern, „damit sich tier- und umweltgerechte Haltung auch wirtschaftlich rechnet“. Dazu eine Priese Verbraucherpolitik und Lob „grüner“ NGOs, wie z.B. des VEBUs, für brave Handelsketten, die vegetarische und vegane Waren verkaufen. Und oben drauf: Attila Hildmann, der die dazugehörige, im wörtlichen Sinne neo-liberale Subjektivität und Kultur verkörpert: Muskeln, Fitnesswahn und Selfmademan mit Porsche. Wir wissen nicht, was an dieser Variante eines begrünten Kapitalismus wirklich positiv sein soll.
Zumal es auch analytisch-theoretisch falsch ist, den Fokus auf die Veränderung der individuellen Lebensweise der Menschen zu legen. Man verändert die Welt nicht dadurch, wie und was man einkauft. Wir dürfen der KonsumentInnenideologie der herrschenden Klasse nicht auf den Leim gehen.
Nichtsdestotrotz ist es natürlich begrüßenswert, dass sich die Entwicklung veganer Lebensmittel als ausbaufähig erweist. Aber es ist wie mit dem Kapitalismus selbst: Das Potenzial für die Herstellung einer befreiten Gesellschaft ist in seinen Produktivkräften angelegt, aber unter den gegebenen politisch-ökonomischen Verhältnissen werden sie zu Destruktivkräften.